BAG INFOBRIEF 3/23

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Infobrief 23/3 pdf als download

„Was passiert mit einer Kirche, die nicht mehr für Menschen da ist, die in Not, auf der Flucht, im Ringen um Leben, für sich, für ihre Kinder, mit ihren Kindern sind? […] Sie verliert Gottes Geist. Verlöre. Was passiert mit einer Kirche, aus der Gottes Geist verschwindet? Sie hörte auf Kirche zu sein.“

EKD-Flüchtlingsbischof Stäblein in seiner Predigt zum Jubiläum

Jubiläum in der Heilig-Kreuz-Kirche. Foto @Peter Grothe für
BAG Asyl in der Kirche

Liebe Freund*innen der Kirchenasyl-Bewegung,

Im August kamen wir anlässlich des 40-jährigen Jubiläums mit über 150 Teilnehmenden und internationalen Gästen zusammen. Mit einer Gedenkveranstaltung am Mahnmal für Kemal Cemal Altun begann die zweitätige Veranstaltung. Jörg Passoth und Jürgen Quandt, die an den ersten Kirchenasylen im Berlin der 1980er Jahre beteiligt waren, blickten auf die Anfänge der Bewegung zurück. Anschließend diskutierten wir mit Gästen aus der Kirchenasyl-Praxis, der Diakonie und der Politik aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen für die Kirchenasyl-Bewegung. Nach einem bewegenden ökumenischen Gottesdienst am Abend war im Garten der Heilig-Kreuz-Kirche bei leckerem Essen und Live-Musik Zeit für persönliche Gespräche und Vernetzung. Der zweite Tag begann mit einer Vorstellung der Arbeit der Menschenrechtsorganisation Fray Matias aus Mexico, die sich an der Grenze zu Guatemala für die Rechte von Flüchtlingen einsetzen. Trotz der geographischen Entfernung wurde klar, wie sehr unsere Kämpfe für Bleiberecht miteinander verbunden sind. Die Militarisierung der Grenzen, und Inhaftierung von Menschen auf der Flucht und komplizierte bürokratische Verfahren verhindern an vielen Orten der Welt den Zugang zu einem menschenwürdigen Leben in Sicherheit. Elizabeth Ngari, Gründungsmitglied von Women in Exile e.V. brachte es auf dem abschließenden Podium auf den Punkt: Gäbe es Bewegungsfreiheit für alle Menschen, nicht nur für Waren, würden weniger Menschen auf der Suche nach einer besseren Zukunft sterben. Eine ausführliche Dokumentation der Tagung veröffentlichen wir bald auf unserer Homepage.

Viele Grüße,

Dietlind Jochims, Vorstandsvorsitzende der Ökum. BAG Asyl in der Kirche e.V.

 

International Sanctuary Delegation nach Polen

Vom 1.-7.9.2023 reisten wir mit einer Delegation des International Sanctuary Networks an die Polnisch-Belarussische Grenze.  Neben Vernetzung mit lokalen Gruppen standen u.a. Besuche des Grenzzauns im ältesten noch vorhandenen Urwald Europas und eine Trauerzeremonie für an der Grenze verstorbene Flüchtlinge auf dem Programm.

Der wunderschöne, sumpfartige alte Wald von Białowieża wird abseits von angelegten Wegen zur Todesgefahr für Menschen auf der Flucht.
Foto: Ulrike La Gro

Interview mit Geoff, Mitglied der Tucson Samaritans und bei No More Deaths

No More Deaths ist eine humanitäre Organisation im südlichen Arizona/USA. Sie wurde 2004 als Koalition verschiedener Gruppen gegründet, die in migrantischen Communities oder Glaubensgemeinschaften verankert sind. Es ging darum, die Kräfte zu vereinen, um dem Sterben von Migrant*innen in der Wüste ein Ende zu bereiten und Reformen des Asylsystems zu erreichen. Das Ziel von No More Deaths ist es, Tod und Leiden im US-Mexikanischen Grenzgebiet durch zivile Initiative zu beenden: Menschen, die offen und gemeinsam nach ihrem Gewissen handeln und fundamentale Menschenrechte verteidigen. Die Tucson Samaritans sind eine der Gruppen, die No More Deaths mit aufgebaut haben.

Geoff, Du warst Teil unserer International Sanctuary Delegation an die Polnisch-Belarussische Grenze im August. Welche Parallelen der Arbeit an den Grenzen siehst Du?

„Die Ähnlichkeiten sind auffällig, sogar verblüffend. Was sehr klar wurde nach dem Besuch der Polnisch-Belarussischen Grenze und dem Wald in Białowieża ist, wie in beiden Fällen die Umwelt wirklich zu einer Waffe gegen Menschen auf der Flucht gemacht wurde, die versuchen, die Grenze zu überqueren. Es gibt die Grenzmauer, die Menschen am Übertritt hindert, wenn Grenzschutzbeamte in der Nähe sind. Diese Mauer hält Menschen aber nicht davon ab, sie zu überqueren, wenn keine Beamten in der Nähe sind, obwohl sie alle möglichen Verletzungen verursacht. In der gesamten Grenzregion in Polen, mussten wir immer wieder durch Checkpoints, wenn wir da lang gefahren sind. Auf den Straßen und in den Dörfern waren überall Grenzschutz und Militär. Und immer wieder hörten wir die Geschichten von Menschen, die vom Grenzschutz aufgegriffen wurden und dann Push-Backs nach Belarus erlebten, irregulär und illegal.  Das führt dazu, dass Menschen durch die dichtesten und abgelegsten Teile des Waldes gehen, wo sie sich leicht verirren können und wo keine anderen Menschen oder Siedlungen sind, wo sie nach Hilfe suchen können, wenn sie sie brauchen. Das ist wirklich ganz ähnlich zu dem, was wir in Arizona sehen, an der Grenze zwischen den USA und Mexiko.  Und es bestimmt auch die Ähnlichkeit der Arbeit, die wir an beiden Orten sehen können.

Die Menschen, die wir in Polen getroffen haben, erzählten all diese Geschichten davon, wie Menschen in Not an ihrer Türschwelle auftauchen, nach Essen, warmer Kleidung, einem Ort zum Ausruhen fragen – oder um Hilfe für die im Wald zurückgelassenen Mitreisenden flehen. Was tut man in so einer Situation? Das Naheliegende und Anständige ist doch, Essen, Unterkunft und humanitäre Hilfe zu geben – medizinische Hilfe, Decken und Ausrüstung, um in dieser Umgebung überleben zu können. Der Staat versucht uns genau davon abzuhalten und kriminalisiert diesen grundlegenden menschlichen Impuls der gegenseitigen Solidarität. Teilweise – denke ich – weil sie wissen, dass ihre Strategie der Abschreckung erfordert, die Reise riskant und gefährlich zu machen. Das ist ihr Ziel. Das bedeutet, dass neben allem anderen die Praxis basaler menschlicher Solidarität auf dem Spiel steht – und diese ist offen, legal und legitim. Ich denke, es geht eigentlich noch nicht einmal um Migration – denn Menschen migrieren und werden das immer tun, egal wie diese Kämpfe ausgehen, egal wie schwer es ihnen vom Staat gemacht wird.  Es geht darum, ob wir uns voneinander und von unseren gegenseitigen Verpflichtungen abwenden werden oder nicht.  Und glücklicherweise haben wir in Polen auch gesehen, dass die Menschen eine wirklich schöne Tradition der Solidarität pflegen, die Teil des sozialen Gefüges dieser Grenzgebiete ist. Und sie handeln danach und arbeiten zusammen, um so viel Solidarität und Unterstützung zu bieten, wie sie können.“

In eurer Arbeit sprecht ihr davon, wie Migrationsregime die Natur zu einer Waffe gegen Menschen auf der Flucht machen. Was bedeutet das in Arizona?

„Die Wüste in Arizona ist eine schwierige Gegend. Diesen Sommer zum Beispiel, gab die längste Wetterperiode mit über 43 Grad seit Aufzeichnung, nämlich 54 Tage hintereinander.  Aber die Wüste ist an sich nicht gefährlich. Die Tohono O’odham, die indigene Bevölkerung in der Wüste von Arizona, auf deren Land wir arbeiten und durch deren Gebiet die Grenze gebaut wurde, haben seit Jahrtausenden in dieser Wüste gelebt und Landwirtschaft betrieben. Wenn wir in die Wüste gehen, nehmen wir ausreichend Wasser mit, um unseren Flüssigkeitshaushalt aufrechtzuerhalten. Und wenn wir in Schwierigkeiten geraten, können wir immer in ein Fahrzeug steigen und uns abkühlen oder zurück nach Tucson fahren, wo wir uns ausruhen und erholen können. Sollten wir in ernsthafte Schwierigkeiten geraten – und jedes Jahr gibt es alle möglichen Leute, in der Regel Touristen, die in dieser Wüste in echte Schwierigkeiten geraten – würde eine ganze Reihe von Notfallhelfer*innen und Such- und Rettungsteams mobilisiert werden, wenn nötig rund um die Uhr, bis wir in Sicherheit sind. Nichts davon ist zugänglich für Menschen auf der Flucht. Und das ist so gewollt. Seit der Einrichtung von Checkpoints bis 160 km nördlich der Grenze, das begann ungefähr 2006, mussten Menschen zwischen drei und sechs Tagen durch die Wüste und diese Hitze laufen, nur um irgendwo anzukommen, wo sie eine Mitfahrgelegenheit nehmen können oder Unterschlupf finden, um dann weiter Richtung Norden zu reisen.

Es ist physiologisch unmöglich, genügend Wasser für einen solchen Zeitraum mit sich zu tragen, um ausreichend mit Flüssigkeit versorgt zu sein. In der Zwischenzeit werden die Wasservorräte, die Gruppen wie No More Deaths und andere in der Wüste entlang der Wege verteilen, die die Menschen nutzen, regelmäßig mutwillig zerstört. Dieser Vandalismus wird von verschiedenen Akteuren begangen: Von Jäger oder faschistische Milizen. Tatsächlich haben wir den US-Grenzschutz über viele Jahre hinweg mehrfach auf versteckten Kameras aufgezeichnet, wie sie diese Wasservorräte zerstörten. Währenddessen hat die Regierung auf konzertierte und konsequente Weise versucht, Solidaritätsarbeit zu kriminalisieren, indem sie Menschen daran hinderte, Menschen auf der Flucht zu beherbergen oder zu transportieren, um sie aus dieser Wüstenumgebung zu entfernen. Sogar in medizinischen Notfällen. Darum ging es unter anderem in dem Strafverfahren der Regierung gegen Scott Warren (ein Ehrenamtlicher von No More Deaths und Samaritans). Wie auch in den vorherigen Verfahren gegen Shanti Sellz und Daniel Strauss. Als Organisation bieten wir daher eigentlich keine medizinischen Transports mehr an. Gleichzeitig diskriminieren die vorhandenen Such- und Rettungsdienste Menschen auf der Flucht systematisch. No More Deaths veröffentlichte im letzten Jahr einen Bericht, in dem tausende Notrufe von Menschen auf der Flucht in der Wüste dokumentiert sind. Die offizielle Notrufnummer leitete diese Anrufe an den Grenzschutz weiter, die in der Mehrheit der Fälle keinerlei Suche oder Rettung einleitete. So blieben Menschen einfach in dieser Wüste liegen und im Stich gelassen. Auf diese Weise wird also in Arizona die Umwelt zur Waffe gemacht.

Zusätzlich zu den tausenden dokumentierten Todesfällen – in denen menschlich Überreste vom Staat gefunden, eingesammelt und registriert wurden – wissen wir, dass zehntausende Personen vermisst werden. Viele davon machten sich auf die Reise durch die Wüste und verschwanden. Sie bleiben unauffindbar. Deshalb reden wir auch über das Verschwinden als eine Taktik des Grenzregimes. Obwohl es natürlich einige wichtige Unterschiede gibt, sprechen wir auch darüber, wie in dieser Taktik des Verschwindenlassens die Praktiken der Repression widerhallen, die die US-gestützten Diktaturen in den Amerikas der 1970er und 1980er Jahre anwandten und die in Ländern wie z.B. Mexiko immer noch verbreitet sind.“

Spanisch-sprachiges Schild von No More Deaths: Humanitäre Hilfe ist niemals ein Verbrechen. Foto: Ulrike La Gro


Eins der Ziele von No More Deaths ist, Teil vom Aufbau einer globalen Bewegung zu sein. Warum brauchen wir diese?

„Wir müssen eine globale Perspektive und eine globale Bewegung kultivieren, den das Grenzregime ist ja auch global aufgestellt. Staaten, die Grenzen aufrüsten, arbeiten oft mit genau denselben Firmen zusammen. Das zeigt, dass das Grenzregime ein lukrativer Markt sind, dem eine eigene Dynamik innewohnt: Es gibt viele Menschen und Firmen, die ein starkes Interesse daran haben, dass Grenzregime wachsen und expandieren. Aber wir sehen auch, wie Staaten Ideen austauschen und einander kopieren – wie zum Beispiel nicht nur in Arizona, sondern auch im Mittelmeer oder im uralten Wälder an der Grenze zwischen Polen und Belarus die Umwelt zur Waffe gemacht wird, die Kriminalisierung von Solidarität und humanitärer Arbeit, usw. Und dann ist da die Externalisierung der Grenzen nach Nordafrika, Mexiko und Zentralamerika hinein. Dabei sind die Grenzregime explizit regional ausgerichtet und die Politiken und Praktiken mehrerer Staaten über Kontinente hinweg aufeinander abgestimmt. Meiner Meinung nach führt all dies dazu, dass die Grundsätze der Menschenrechte und des internationalen Schutzes, die – zumindest theoretisch – die Grundlage des internationalen Systems nach dem Zweiten Weltkrieg und den Schrecken dieses Krieges bilden sollten, in ihrer Gesamtheit ausgehöhlt werden. Ich beziehe mich hier auf die Universale Erklärung der Menschenrechte und die UN-Konvention von 1951, sowie das UN-Protokoll von 1967 über den Status von Flüchtlingen.

Was wir bei all diesen Bemühungen zur Kontrolle der irregulären Migration und zur Abschreckung vor irregulärer Einreise beobachten, ist das Bestreben, den Menschen den Zugang zu den in diesen Verträgen verankerten Rechten zu verwehren, denn ein Staat muss niemandem internationalen Schutz gewähren, der sich nicht physisch auf seinem Hoheitsgebiet aufhält. Durch die Dublin-Verordnung und ähnliche Maßnahmen wird sogar so getan, als sei jemand, der sich tatsächlich auf dem Hoheitsgebiet eines Staates aufhält, gar nicht dort.

Zugleich werden sich Menschen weiterhin bewegen. Das wird nicht aufhören. Die Idee, dass Staaten Menschen an der Migration hindern könnten, ist eine Fantasie, die genutzt wird, um die kontinuierliche Eskalation von Gewalt zu rechtfertigen. Die Regierungen also, die Schutz bieten sollten – die verpflichtet sind, Schutz zu bieten – sind die, die in vielen Fällen diese Gewalt ausführen oder unterstützen, alles im Namen der Verhinderung der irregulären Einreise. Im Ergebnis können Regierungen in Europa, in den USA und anderswo weiterhin ihre Lippenbekenntnisse zu Menschenrechten äußern und sagen „Oh, aber wir haben doch ein Asylrecht“, obwohl es gleichzeitig immer schwieriger bis unmöglich wird, Zugang dazu zu erhalten.

Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Verfahren selbst gegen die Menschen gerichtet sind und zunehmend ausgehöhlt werden. Ganz zu schweigen davon, wie die Organisation dieses Grenzregimes genau die gleichen globalen Muster von Gewalt und Ungleichheit reproduziert, die als Erbe des Kolonialismus und der anhaltenden Muster von räuberischen Schuldenbeziehungen und neoliberaler Entwicklungspolitik usw. fortbestehen.  Diese Muster der Ungleichheit sind offensichtlich und nachweislich rassistisch und von der Idee weißer Vorherrschaft geprägt, sowohl in ihrem Ursprung als auch in ihrem Ergebnis.

Das alles trägt dazu bei, warum wir eine globale Bewegung brauchen: Weil das Grenzregime sich global organisiert, und weil es nicht nur um die Zukunft der Weltordnung und des internationalen Systems geht, sondern auch um die Beschaffenheit unserer Gesellschaften, unseres eigenen Lebensumfelds und der Werte, von denen wir sagen, dass wir sie für uns beanspruchen und verteidigen. In diesem Prozess können wir so viel voneinander lernen, auch wenn wir in unseren je spezifischen Kontexten und Ländern aktiv sind. Deshalb habe ich mich so über die Möglichkeit gefreut, Menschen, die in Solidarität mit Menschen auf der Flucht in Deutschland, Polen und an anderen Orten in Europa arbeiten, treffen zu können uns Zeit mit euch zu verbringen.“

 

Wir brauchen Ihre Unterstützung

Die Ökumenische BAG Asyl in der Kirche ist der organisatorische Zusammenschluss der Kirchenasylbewegung in Deutschland. Sie besteht Kirchengemeinden und Regionalnetzwerken aller Konfessionen, die bereit sind, Flüchtlinge im vor Abschiebung zu schützen, wenn begründete Zweifel an einer gefahrlosen Rückkehr bestehen. Als BAG treten wir für die Flüchtlinge und deren Unterstützer*innen ein, durch Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit, Dokumentation von Kirchenasyl, Publikationen, Tagungen und Beratung von Gemeinden. Für den Fortbestand unserer kontinuierlichen Arbeit sind wir auf Ihre Spende angewiesen.

BAG Asyl in der Kirche | IBAN: DE68 3506 0190 1013 1690 19 |BIC: GENODED1DKD

 

Impressum:
Herausgeberin: Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche e.V.
Kirche Zum Heiligen Kreuz, Zossener Str. 65, 10961 Berlin
V.i.S.d.P.: Dietlind Jochims
Redaktion und Gestaltung: Ulrike La Gro
Bilder: Ulrike La Gro/BAG, Jan Niklas Collet, Dietlind Jochims/BAG, Ulrike La Gro/BAG
www.kirchenasyl.de | | Facebook und Twitter @kirchenasyl