Sehr geehrter Herr Innenminister Ulbig, sehr geehrte Innenminister der Bundesländer,
das Thema Kirchenasyl wird in den Bundesländern und zwischen den Kirchen und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge diskutiert. Besonders wenn es um Abschiebungen innerhalb Europas geht, stoßen Kirchenasyle nicht immer auf Verständnis. Anlässlich der Innenministerkonferenz vom 12.-14. Juni möchten wir Ihnen dazu einige Beobachtungen aus dem Erleben von Kirchengemeinden und unserer Beratungspraxis schildern.
Täglich fragen uns sehr viele Menschen nach Schutz vor einer Rücküberstellung in ein anderes europäisches Land. Was sie in Europa erlebt haben, bestürzt. Wir nennen einige Beispiele.
Sie erzählen davon, dass Familien nicht miteinander leben dürfen.
– Bruder und Schwester, 19 und 20 Jahre alt, sind Jesiden aus dem Irak. Vier ihrer Geschwister sind in Deutschland anerkannte Flüchtlinge. Ein minderjähriger Bruder befindet sich in Deutschland im Asylverfahren. Die beiden sollen nach Bulgarien abgeschoben werden.
Sie berichten von der sehr uneinheitlichen Anerkennungs- und Ablehnungspraxis in Europa. Beispielsweise schiebt Skandinavien auch kleine Kinder nach Afghanistan ab.
– Der vierköpfigen Familie (die Kinder sind wenige Monate und fast zwei Jahre alt) droht aus Norwegen direkt die Abschiebung nach Afghanistan. Der behandelnde Psychiater attestiert beiden Elternteilen eine schwere posttraumatische Belastungsstörung mit akuter Suizidalität.
Wir hören, wie manche Länder Geflüchtete systematisch erniedrigen und inhaftieren.
– An der Grenze Türkei-Bulgarien wurden sie mit Polizeihunden gejagt. Polizisten schossen zur Abschreckung in die Luft. Die Hunde attackierten die Geflüchteten. Eine Narbe am rechten Arm zeugt von dieser Hundeattacke. Dann wurden sie zwei Tage auf einem Polizeirevier festgehalten und anschließend in ein Flüchtlingslager verbracht, wo sie wie Gefangene festgehalten wurden. Es gab mehrere Tage kein Essen und nur ein wenig Wasser. Polizisten beschimpften und schlugen sie. (Syrer, 22 Jahre alt)
– „Nachdem wir die Grenze zwischen Ukraine und Ungarn überschritten hatten, wurden wir von der ungarischen Polizei aufgegriffen. Sofort wurden allen in der Familie Handschellen angelegt. Alle wurden untersucht. Die Mutter wurde von uns getrennt. Wir wurden in Handschellen in ein gesichertes Camp gebracht. Dort wurde unsere Mutter krank. Sie wurde zu einem Krankenhaus gebracht, aber die ganze Zeit in Handschellen, sogar als sie auf Toilette gehen wollte. Von Afghanistan bis Ungarn hatten wir auf der Flucht auch oft Angst. Erst in Ungarn aber kamen wir in das Gefängnis und wurden behandelt wie Menschen, die ein Verbrechen begangen haben. Wir waren unser ganzes Leben noch nie im Gefängnis. Besonders unsere Mutter kann es nicht verstehen, dass sie nach Europa kommen musste und dann im Gefängnis landete.“ (Familie aus Afghanistan)
Frauen und junge Männer schildern, wie sie sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren, weil sie in Europa nicht untergebracht wurden, sondern auf der Straße schlafen mussten.
– Eine 19-Jährige aus Eritrea berichtet, dass sie nach der Überfahrt nach Italien im Bus nach Rom gefahren wurde. Nach Abnahme der Fingerabdrücke wurden sie dort ohne Versorgung oder Unterkunft auf die Straße geschickt. Angebote von Männern, sie könne sich bei ihnen ausruhen oder auch waschen und pflegen, endeten mehrmals in Vergewaltigungen. Bereits in Libyen wurde sie bei einem der regelmäßigen sexuellen Übergriffe während ihrer Gefangenschaft mit dem HI-Virus infiziert. Eine ärztliche Versorgung erfolgte in Italien nicht. Essen wurde lediglich von einer kirchlichen Hilfsorganisation ausgegeben.
Und sie erzählen von jahrelangen Odysseen durch Europa.
– Sie ist 27 Jahre alt. Seit mehr als 10 Jahren ist sie allein auf der Flucht. Von Somalia über Ägypten, den Sudan und Libyen nach Italien. Weiter nach Norwegen. Sechs Jahre dort bis zur endgültigen Ablehnung ihres Asylantrages. Aus Angst vor Abschiebung Flucht nach Dänemark. Dort Gefängnis und Rücküberstellung nach Norwegen. Von dort Flucht nach Deutschland. Hier wird auf die Zuständigkeit Norwegens verwiesen. Sie kann nicht mehr.
Wir sehen die Menschen und hören solche Berichte jeden Tag. Wir sehen Behördenfehler, Ermessensspielräume, vermeintlich „nicht-außergewöhnliches“ Elend, menschliche Tragödien. Was wir hören und sehen, macht auch das enorme strukturelle Versagen einer europäischen Flüchtlingspolitik deutlich. Das macht uns oft ratlos und wütend.
Dieses Versagen werden wir mit Kirchenasyl nicht heilen können. Lediglich ein sehr kleiner Teil der Anfragen mündet in ein Kirchenasyl. Aber Kirchengemeinden versuchen, besonders schwere Notlagen für einzelne Menschen zu lindern. An den individuellen Schicksalen der Frauen, Männer und Kinder in momentan etwa 340 Kirchenasylen werden die nicht zumutbaren Härten, die durch innereuropäische Abschiebungen entstehen, deutlich. Wir diskutieren und lernen durch die Kirchenasyl-Anfragen in besonderer Weise: Wie setzen wir uns als Staatsbürger*innen in christlicher Verantwortung für die Werte unseres
Grundgesetzes und die Wahrung von Menschenrechten ein?
Mit wachsender Sorge nehmen wir wahr, dass von staatlicher Seite zunehmender Druck auf das Kirchenasyl ausgeübt wird. Zu Unrecht wird uns als Kirchen ein Missbrauch des Kirchenasyls unterstellt. Dabei sollte der Kern der Debatte unseres Erachtens eher sein, wie die Gründe, die zu Kirchenasyl führen, beseitigt werden können: Wie können wir im Umgang mit Geflüchteten Menschenrechte besser wahren und unserer Idee von Europa gerecht(er) werden?
Wir bitten Sie, Kirchenasyl auch aus diesem Blickwinkel heraus zu bedenken.
Mit freundlichen Grüßen,
Pastorin Dietlind Jochims
für den Vorstand der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche